20 Milliarden über 10 Jahre? Warum wir mehr Transparenz im Startchancen-Programm brauchen

20 Milliarden über 10 Jahre? Warum wir mehr Transparenz im Startchancen-Programm brauchen

„20 Milliarden Euro über 10 Jahre“, so lautete das große Versprechen des Startchancen-Programms. Doch die Kommunikation zur Finanzierung des Programms ist irreführend, findet Bildungsforscher Michael Wrase. Weil die Länder auf ihren Finanzierungsanteil Vieles anrechnen können, dürfte das tatsächliche Programmvolumen deutlich geringer ausfallen.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Länder sprechen mit Blick auf das Startchancen-Programm gern in Superlativen. Es sei das „größte und langfristigste Bildungsprogramm der Bundesrepublik Deutschland“. Bund und Länder investierten „20 Milliarden in zehn Jahren“ in Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler.

Zunächst muss festgehalten werden, dass das Zustandekommen des Programms als ein echter Erfolg zu werten ist. Bei äußerst eingeschränkten Bundeskompetenzen im Schulbereich musste das BMBF Mittel und Wege finden, um das umzusetzen, was die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag bereits festgelegt hatten – die drei 3 Säulen Investitionsprogramm, Chancenbudget und Schulsozialarbeit für 4.000 Schulen bundesweit. Es hatte gegen eine Haushaltslage anzukämpfen, die durch die ökonomische Flaute, Militär- und Hilfsausgaben für den Ukraine-Krieg und – offensichtlich unverhandelbare – politische Sparvorgaben überaus angespannt war und weiterhin ist.

Nicht zuletzt waren die mitunter stark divergierenden Interessen von sechzehn Bundesländern mit dem Bundesprogramm in Übereinstimmung zu bringen. Es war folglich damit zu rechnen, dass gemessen an den hochgesteckten Zielen des Koalitionsvertrags, Kompromisse unausweichlich sein würden.

Bund und Länder setzten von Anfang an auf eine wenig transparente, teilweise sogar irreführende Kommunikationsstrategie.

Michael Wrase

Statt dies offenheraus zu benennen, ohne dabei Erfolge kleinzureden, setzten Bund und Länder von Anfang an auf eine wenig transparente, teilweise sogar irreführende Kommunikationsstrategie. Bereits in den Pressemitteilungen zur Verteilung der Bundesmittel wurde nicht ausreichend deutlich gemacht, dass eine an sozialen Indikatoren orientierte Mittelverteilung auf die Bundesländer de facto nur in der Säule I, dem Investitionsprogramm, erfolgen würde. Stattdessen wurde von einem „echten Paradigmenwechsel“ hin zu einer sozialindizierten Mittelverteilung gesprochen, die das Startchancen-Programm eingeleitet habe.

Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich die gefundene Lösung selbst für das Investitionsprogramm jedoch als Königsteiner-Schlüssel ‚light‘. Durch die Auswahl entsprechender Indikatoren, wie etwa dem negativen BIP, war es dem Bundesministerium und den Ländern gelungen, zu einer ähnlichen Mittelverteilung wie nach dem Königsteiner Schlüssel zu gelangen – wobei beispielsweise Berlin, ein Land mit einem besonders hohen Anteil an sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern, am Ende sogar weniger erhielt. Dass Teile der Bildungsforschung, die vorher eine andere, an sozialen Indikatoren orientierte Mittelverteilung eingefordert hatten, diesen Kompromiss im Auftrag des BMBF durch ein Gutachten vorbereiteten1, stimmt nachdenklich. Aber das sei hier nur am Rande bemerkt.

Finanzierungsanteil der Bundesländer am Startchancen-Programm: alles eine Frage der „Anrechnung“

Im August ließ nun Table.Media mit der Schlagzeile aufhorchen, dass das angepriesene „20-Milliarden-Progamm“ vom Finanzvolumen tatsächlich wohl deutlich kleiner ausfallen wird. Der hälftige Anteil, den die Bundesländer über die kommenden zehn Jahre zu erbringen haben, werde größtenteils durch die Anrechnung bereits bestehender oder ohnehin geplanter Ausgaben für die Schulen erbracht, so das Resümee der Table-Journalist:innen, die für den Bericht mit Landesbildungspolitiker:innen gesprochen sowie aktuelle Haushaltspapiere und Schulausschuss-Unterlagen gesichtet haben. Demnach hat kaum ein Bundesland vor, zusätzliche Mittel für das Startchancen-Programm in den Haushalt des kommenden Jahres einzustellen.

Unabhängig davon, wie viel Geld über die zehn Jahre am Ende tatsächlich von den Ländern zusätzlich in das Programm fließen wird, stellt sich die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass Länder ihren Finanzierungsanteil hauptsächlich oder vollständig über derartige „Anrechnungen“ erbringen können. Hierzu ist ein Blick in die Verwaltungsvereinbarung über das Startchancen-Programm zwischen Bund und Ländern erforderlich. Dort heißt es, dass sich die Länder zusammen in „gleicher Höhe“ wie der Bund, „also mit einer Milliarde“ jährlich beteiligen. Und dann kommt die entscheidende Passage: 

„Dieser Betrag der Länder setzt sich zusammen aus bestehenden, auf die Ziele des Programms gerichteten Maßnahmen, die anrechenbar sind, und den für die Umsetzung erforderlichen zusätzlichen Mitteln, die auch über eine Neupriorisierung der vorhandenen Landesmittel zugunsten der Zielsetzung des Startchancen-Programms erbracht werden können.“

Nun wird zu Recht darauf hingewiesen, dass Bundesländer, die bereits Programme für Schulen in schwierigen Lagen haben bzw. für diese Schulen besondere Leistungen vorsehen, quasi in Vorleistung getreten sind, sodass ihnen die Anrechnungsmöglichkeit aus gutem Grund offenstehen sollte. So weit, so gut.

Die Formulierung des Verwaltungsabkommens geht jedoch viel weiter. Anrechenbar sind nach dem Wortlaut alle Maßnahmen, die auf „die Ziele des Programms gerichtet“ sind. Ziele des Programms sind nach der Verwaltungsvereinbarung – um dies nochmal in Erinnerung zu rufen – die Verbesserung von Bildungs- und Teilhabechancen, insbesondere die Stärkung der Basiskompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Darunter ließe sich prinzipiell so gut wie alles fassen, was im Kosmos Schule neben den curricularen Kernaufgaben passiert.

WZB-Forscher Michael Wrase

Über den Autor

Michael Wrase ist Leiter der Forschungsgruppe „Recht und Steuerung im Kontext sozialer Ungleichheiten“ am WZB, zu der auch das Projekt „Expert:innenforum Startchancen“ gehört. Darüber hinaus ist er Professor für Öffentliches Recht mit den Schwerpunkten Sozial- und Bildungsrecht an der Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verfassungsrecht, Sozial- und Bildungsrecht, Bildungssteuerung und Rechtssoziologie/Socio-Legal Studies.

Das Finanzierungsanteile-Muster, das der Bund-Länder-Vereinbarung als Anhang 2 beigefügt ist, enthält zwar teilweise eine Einengung auf Maßnahmen, die ausschließlich den Startchancen-Schulen zugutekommen. Andere Maßnahmen, wie etwa für additive Lernangebote oder die „Förderung und personelle Unterstützung multiprofessioneller Teams“ (aufgezählt werden hier: „Sozialpädagogen, Schulpsychologen, Integrationshilfen, Schulassistenzen, pädagogische Fachkräfte, interkulturelle Assistenzen“ usw.) können aber scheinbar unabhängig davon angerechnet werden, ob auch andere Schulen, die nicht am Startchancen-Programm teilnehmen, entsprechende Leistungen erhalten. Oder doch nicht? Vieles bleibt hier unbestimmt.

Entsprechend groß ist das Interesse der Fachöffentlichkeit daran, was genau die Länder letztlich anrechnen oder als „zusätzliche Leistung“ reklamieren können. Dies wird sich jedoch erst ersehen lassen, wenn die Listen über die „bilaterale Verständigung“ zwischen Bund und dem jeweiligen Land öffentlich vorliegen. Das Prozedere ist danach wohl so, dass die Länder jeweils die aus ihrer Sicht anrechnungsfähigen Finanzierungsanteile übermitteln und sich anschließend mit dem BMBF verständigen, falls es von dort Rückfragen oder Beanstandungen gibt. Der juristische Hebel des Bundes ist dabei jedoch gering, solange das jeweilige Land nur eine plausible Begründung liefert, weshalb diese oder jene Maßnahme den Zielen des Programms dienlich ist.

Bleiben die Mittel deutlich hinter dem zurück, was für einen echten Turnaround notwendig ist, wird das Programm auch bei besten Absichten und hoher Motivation der beteiligten Schulen nicht gelingen können.

Michael Wrase

Lernendes Programm – dafür braucht es eine Kultur der Transparenz

Richtig ist, dass der Erfolg des Programms nicht allein von der Höhe der bereitgestellten Mittel abhängt. Bleiben die Mittel aber deutlich hinter dem zurück, was für einen echten Turnaround notwendig ist, wird das Programm auch bei besten Absichten und hoher Motivation der beteiligten Schulen nicht gelingen können.

So gingen die beteiligten Fachpolitiker:innen in den Koalitionsverhandlungen für die von ihnen festgelegte Zahl von 4.000 Schulen von einem Finanzvolumen von 3 bis 4 Milliarden Euro jährlich aus (siehe auch Impuls von Horst Weishaupt) – von denen nun lediglich eine Summe von 1 + X Milliarden übrig zu bleiben droht. Das wäre gegenüber der bisher kommunizierten Planung eine bedeutende Reduktion des Programmvolumens, deren Implikationen für die Umsetzung – bislang zumindest – nicht reflektiert worden sind.

Damit das Startchancen-Programm mit Blick auf die Verringerung von Bildungsarmut an den beteiligten Schulen wirklich ein Erfolg werden kann, ist es notwendig, das vom BMBF propagierte Leitbild eines „lernenden Programms“ ernst zu nehmen. Dies setzt aber seitens des Bundesministeriums und der Länder voraus, die bisherige Kommunikationsstrategie zu ändern. Statt zu Schwiegen oder Schönfärberei zu betreiben, sollten die Fakten transparent auf den Tisch gelegt werden. 

Das betrifft nicht zuletzt die Verständigungen über die Finanzierungsanteile der Länder entsprechend Anlage 2 des Verwaltungsübereinkommens, die zeitnah nach Abschluss der (Fach-)Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Ein legitimes Interesse an Geheimhaltung ist jedenfalls nicht erkennbar. Aus den Listen der Länderanteile werden sich Hinweise ergeben, inwieweit die von den jeweiligen Ländern zur Anrechnung gebrachten Maßnahmen spezifisch den Startchancen-Schulen zugutekommen und wieviel sie tatsächlich zusätzlich in das Programm investieren – oder auch nicht. 

Tatsächliche Klarheit darüber, was am Ende bei den Schulen ankommt, wird man jedoch nur gewinnen können, wenn man mit ihnen selbst spricht. Hierfür ist unabhängige Forschung erforderlich – und ein offener Umgang mit den daraus gewonnenen Einsichten.


  1. Der in Säule I genutzte Sozialindex (basierend auf den Dimensionen Migrationshintergrund, Armutsgefährdung und negativem BIP; Gewichtung 40:40:20) geht auf ein vom BMBF in Auftrag gegebenes, wissenschaftliches Kurzgutachten von Horst Weishaupt und Jörg-Peter Schräpler zurück. ↩︎

Warum die Einbeziehung von Förderschulen in das Startchancen-Programm rechtlich und bildungswissenschaftlich problematisch ist. Ein Zwischenruf von Michael Wrase.

Symbolbild – Klassenzimmer

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