Startchancen für Bildungsarmut!?

Startchancen für Bildungsarmut!?

Nachdem die Verwaltungsvereinbarung über das Startchancen-Programm geschlossen wurde, steht nun die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung in den Bundesländern an. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat kürzlich in einer Pressemitteilung verlautbaren lassen, dass sie zu 60 Prozent „Schülerinnen und Schüler an Grund- und Förderschulen“ fördern möchte. Die Einbeziehung von Förderschulen in das Startchancen-Programm lässt aus unterschiedlichen Gründen aufhorchen. Sie wird durch die Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern nicht explizit ausgeschlossen. Dort wird lediglich unter A. III. 2. festgehalten, dass 60 Prozent der adressierten Schüler:innen „in Schulen im Primarbereich“ und 40 Prozent in „weiterführenden Schulen“ gefördert werden sollen.

Doch wie bei so Vielem in der Vereinbarung und ihren Anlagen bleiben viele Details ungeklärt. Damit kommt den Ländern bei der Ausgestaltung des Programms ein erheblicher Entscheidungsspielraum zu. Dieser wird hier in einer Weise genutzt, die Ziele des Programms zu konterkarieren droht. Die Entscheidung, Startchancenmittel in Förderschulen fließen zu lassen, ist offensichtlich wenig durchdacht und aus bildungswissenschaftlicher ebenso wie aus rechtlicher Perspektive hochgradig problematisch.

Um die Einbeziehung von Förderschulen bewerten zu können, müssen wir zunächst einen Blick auf das ehrgeizige Ziel des Startchancen-Programms werfen: „Bis zum Ende der Programmlaufzeit soll die Zahl der Schüler:innen, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen, an den Startchancen-Schulen halbiert werden“ (A. I. 2. Verwaltungsvereinbarung). Natürlich könnte man jetzt Rabulistik betreiben und den Begriff der „Mindeststandards“ für Förderschulen anders verstehen als für Regelschulen. Das wäre aber ein durchschaubares Manöver und stünde kaum im Einklang mit den übergreifenden Zielen des Programms.

Letztlich kann der Begriff der Mindeststandards nur so verstanden werden, wie er im Bereich der Bildungsforschung verwendet wird: Dort wird von absoluter Bildungs- bzw. Kompetenzarmut bei allen Schüler:innen ausgegangen, die nicht wenigstens die Stufe 1 der Kompetenzskala der PISA-Studien erreichen. Von relativer Bildungsarmut wird zudem schon dann gesprochen, wenn die PISA-Stufe 2 nicht erreicht wird (Solga 2017: 448 f.). Dieser Kreis von Schüler:innen ist einem hohen Risiko der Exklusion aus dem allgemeinen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sowie erheblichen Beeinträchtigungen bei der gesellschaftlichen Teilhabe ausgesetzt (Quenzel/Hurrelmann 2019). Auch der IQB-Bildungstrend, dessen ernüchternde Ergebnisse im Hinblick auf das Erreichen fachlicher Mindeststandards maßgeblicher Bezugspunkt der Diskussion um das Startchancen-Programm waren, folgt im Kern diesem Verständnis.

Folglich müssen sich die durch das Programm zu erreichenden „Mindeststandards“ zumindest der PISA-Kompetenzstufe 2 annähern, um tatsächliche „Startchancen“ für die berufliche und gesellschaftliche Teilhabe der Schüler:innen zu schaffen. Dass dieses Ziel an den Förderschulen, jedenfalls solchen mit den Förderschwerpunkten „Lernen“, „Sprache“ und „soziale und emotionale Entwicklung“ (kurz LSE) erreicht werden kann, die den Großteil der früher als „Sonderschulen“ bezeichneten Lerneinrichtungen ausmachen, ist im Lichte der empirischen Erkenntnisse unwahrscheinlich.

WZB-Forscher Michael Wrase

Über den Autor

Michael Wrase ist Leiter der Forschungsgruppe „Recht und Steuerung im Kontext sozialer Ungleichheiten“ am WZB, zu der auch das Projekt „Expert:innenforum Startchancen“ gehört. Darüber hinaus ist er Professor für Öffentliches Recht mit den Schwerpunkten Sozial- und Bildungsrecht an der Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Verfassungsrecht, Sozial- und Bildungsrecht, Bildungssteuerung und Rechtssoziologie/Socio-Legal Studies.

In Deutschland ist, anders als in vielen Ländern weltweit, die gesonderte Beschulung von Kindern mit speziellen Förderbedarfen weiterhin der Regelfall. Sie wird damit legitimiert, dass an diesem Lernort den besonderen Bedarfen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen oder besonderen Förderbedarfen besser entsprochen werden könne als an einer Regelschule. Die vorliegenden empirischen Studien und bildungswissenschaftlichen Erkenntnisse aber stützen diese Annahme nicht. Im Gegenteil zeigen sich mitunter sogar deutliche Nachteile für die Kompetenzentwicklung von Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die getrennt von anderen Kindern ohne Förderbedarf unterrichtet werden (vgl. Werning 2014:610 f.).

Auch ganz allgemein sind die Bildungs-Outcomes der Förderschule äußerst unbefriedigend. Das gilt, obwohl diese Schulen etwa im Hinblick auf Ressourcenausstattung und Schüler-Lehrer-Relationen bereits unter vergleichsweise günstigen Bedingungen arbeiten. Etwa 70 Prozent der Schüler:innen verlassen die Förderschule ohne einen berufsqualifizierenden Schulabschluss (KMK 2024: XXIV). Sie bilden damit den harten Kern der Gruppe von Schulabgänger:innen, die auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance haben und teilweise ihr Leben lang in Sondersystemen wie Werkstätten für behinderte Menschen verbleiben bzw. auf staatliche Unterstützungsleistungen angewiesen sind. Fast 45 Prozent aller Schüler:innen, die im Schuljahr 2022/2023 ohne Hauptschulabschluss die Schule verließen, kommen aus Förderschulen (Statistisches Bundesamt 2023: Tab. 21111-15, eigene Berechnung).

Förderschulen müssen als Hauptproduzenten von absoluter und relativer Bildungsarmut betrachtet werden. Diese Schulform nunmehr zum Bestandteil des „Startchancen“-Programms zu machen, erscheint vor dem Hintergrund der bildungswissenschaftlichen Erkenntnisse geradezu widersinnig.

Michael Wrase

Darüber hinaus ist belegt, dass der Besuch von Förderschulen mit Stigmatisierungseffekten einhergeht – und zwar selbst dann, wenn Schüler:innen dort einen regulären Hauptschulabschluss erwerben. So zeigen neue Studien, dass die Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen von Förderschüler:innen im Vergleich zu Hauptschüler:innen signifikant schlechter sind, selbst wenn die verglichenen Gruppen in Bezug auf die familiären Ressourcen, kognitiven Grundfertigkeiten und sozialstrukturellen Merkmale vergleichbar sind (Menze et al. 2021, Blanck 2020). Schüler:innen von Förderschulen kämpfen oft jahrelang mit dem Stigma der Anomalität. Diese Stigmatisierungswirkung insbesondere der Förderschulen für sogenannte „Lernbehinderte“, ist vielfach wissenschaftlich nachgewiesen (vgl. z. B. Pfahl 2006, 2011, Steinmetz et al. 2021: 71).

Vor diesem Hintergrund müssen Förderschulen als Hauptproduzenten von absoluter und relativer Bildungsarmut betrachtet werden. Für die allermeisten Förderschüler:innen stehen sie am Anfang einer Kette von Exklusionen vom regulären Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Diese Schulform nunmehr zum Bestandteil des „Startchancen“-Programms zu machen, erscheint vor dem Hintergrund der bildungswissenschaftlichen Erkenntnisse geradezu widersinnig.

In keinem anderen Punkt hat der zuständige UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Staatenberichtsverfahren 2023 die Bundesrepublik so deutlich gerügt wie bei der Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung nach Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention.

Die Konvention ist für die Bundesrepublik und die Länder verbindliches (Völker-)Recht und verlangt einen Umbau des exklusiven Förderschulsystems hin zur inklusiven Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen an den Regelschulen (ausf. Steinmetz et al. 2021, Kroworsch 2021). Förderschulen als gesonderte Einrichtungen müssen damit schrittweise auslaufen bzw. in inklusive Regelschulen umgewandelt werden.

Der Fachausschuss, der die Umsetzung der Konvention in den Mitgliedstaaten überwacht, zeigte sich „besorgt über die unzureichende Umsetzung der inklusiven Bildung im gesamten Bildungssystem, das Vorherrschen von Sonderschulen und -klassen sowie die verschiedenen Hindernisse, auf die Kinder mit Behinderungen und ihre Familien stoßen, wenn sie in Regelschulen eingeschult werden und diese besuchen wollen“ (CRPD Committee 2023, para. 53). Er fordert die Bundesrepublik auf, endlich „einen umfassenden Plan zu entwickeln, um den Übergang von der gesonderten zur inklusiven Bildung auf Länder- und Gemeindeebene zu beschleunigen“ (CRPD Committee 2023, para. 54 lit. a). Eine Einbeziehung von Förderschulen in das Startchancen-Programm ist genau das Gegenteil dessen, was der Ausschuss fordert.

Dass die völkerrechtliche Verpflichtung zur Schaffung eines tatsächlich „inklusiven“ Schulsystems nun ausgerechnet in dem vom Bund und den Ländern gemeinsam initiierten und mit vielen Erwartungen zur Reduzierung von Bildungsarmut verbundenen Startchancen-Programm unterlaufen werden könnte, ist kein gutes Zeichen. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Ankündigung des BMBF, es handle sich um ein „lernendes Programm“, ernst genommen wird. Noch ist Zeit, dass sich die Bundesländer anders entscheiden und die Startchancen-Mittel nicht für die Förderung eines exklusiven Systems nutzen, das Bildungsverlierer produziert. Nordrhein-Westfalen etwa könnte seine Planungen zumindest dahingehend konkretisieren, nur solche Förderschulen in das Startchancen-Programm aufzunehmen, die im Zuge des Startchancen-Programms mit Regelschulen fusionieren und sich zu echten inklusiven Schulen entwickeln. Das würde den Vorgaben der UN-Konvention entsprechen.

Noch ist es zum Umdenken nicht zu spät. Förderschulen bieten keine Startchancen auf dem Weg zu echter Teilhabe, sie führen vielmehr in die Sackgasse von Bildungsarmut und sozialer Exklusion.


Quellen
  • Blanck, Jonna M. (2020): Übergänge nach der Schule als »zweite Chance«. Eine quantitative und qualitative Analyse der Ausbildungschancen von Schülerinnen und Schülern aus der Förderschule »Lernen«, Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
  • Committee on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD Committee 2023): Concluding observations on the combined second and third periodic reports of Germany, UN Doc. CRPD/C/DEU/CO/2-3.
  • Kroworsch, Susanne (2021): Ohne ein inklusives Bildungssystem keine Chancengleichheit Rechtliche Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechts-konvention und Herausforderungen in der schulpraktischen Umsetzung, in: DDS – Die Deutsche Schule, 113 (4), S. 381–395. Open Access unter: https://doi.org/10.31244/dds.2021.04.02
  • Kultusministerkonferenz (KMK 2024): Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2013-2022. Statistische Veröffentlichung der Kultusministerkonferenz, Dokumentation Nr. 240, Berlin.
  • Menze, Laura/Sandner, Malte/Anger, Silke/Pollak, Reinhard/Solga, Heike (2021): Jugendliche aus Förderschulen mit Schwerpunkt „Lernen”: Schwieriger Übergang in Ausbildung und Arbeitsmarkt, Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB-Kurzbericht 22/2021.
  • Pfahl, Lisa (2006): Stigma-Management und berufliche Orientierung sozial benachteiligter Jugendlicher, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede: Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München, S. 1754-1760. Frankfurt am Main: Campus Verlag. Online unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-144294
  • Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus (2019): Ursachen und Folgen von Bildungsarmut, in: Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus (Hrsg.), Handbuch Bildungsarmut, Wiesbaden: Springer VS, 3–28.
  • Solga, Heike (2017): Bildungsarmut und Ausbildungslosigkeit in der Bildungs- und Wissensgesellschaft, in: Becker, Rolf (Hrsg.), Lehrbuch der Bildungssoziologie, 3. Aufl. Wiesbaden: Springer VS, 443–485.
  • Statistisches Bundesamt (2023): Statistischer Bericht. Allgemeinbildende Schulen. Schuljahr 2022/2023. Online unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Schulen/Publikationen/Downloads-Schulen/statistischer-bericht-allgemeinbildende-schulen-2110100237005.html
  • Steinmetz, Sebastian/Wrase, Michael/Helbig, Marcel/Döttinger, Ina (2021): Die Umsetzung schulischer Inklusion nach der UN-Behindertenrechtskonvention in den deutschen Bundesländern, Baden-Baden: Nomos. Open Access unter DOI:10.5771/9783748924401.
  • Werning, Rolf (2014): Stichwort: Schulische Inklusion. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 17. Jg., 601-623.

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