Viel versprochen, (zu) wenig dahinter? Zur Politischen Kommunikation des Startchancen-Programms – Ein Gastbeitrag von Jan-Martin Wiarda

Viel versprochen, (zu) wenig dahinter? Zur Politischen Kommunikation des Startchancen-Programms – Ein Gastbeitrag von Jan-Martin Wiarda

Die Regierungszeit der Ampel-Koalition stand bildungspolitisch ganz im Zeichen des Startchancen-Programms. Als milliardenschwerer Paradigmenwechsel angekündigt, erhielt Startchancen eine für ein Bildungsprogramm nie dagewesene mediale Aufmerksamkeit. Bildungsjournalist Jan-Martin Wiarda wirft einen Blick auf die Kommunikation von Bund und Ländern und beleuchtet, was sich inhaltlich dahinter verbirgt.

Es sei „das bislang größte Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, feierten BMBF und Kultusministerkonferenz ihre Einigung. Und in der Tat, schon die Zahlen zum zwischen Bund und Ländern vereinbarten Startchancen-Programm klangen beeindruckend: 20 Milliarden Euro, verteilt auf 4000 Schulen, über zehn Jahre hinweg. Und fast noch wichtiger: Statt der üblichen Gießkanne endlich eine zielgenaue Förderung für diejenigen Schülerinnen und Schüler, die sie am dringendsten brauchen.

Es war Anfang Februar 2024, und um ein Haar hätte man über all dem Selbstlob das zweijährige Verhandlungshickhack um das Startchancen-Programm vergessen können, das dem Durchbruch vorausgegangen war.

Besonders die damalige Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) überschlug sich mit den Superlativen. „Noch nie“ sei der Handlungsdruck so groß gewesen wie jetzt: „Wir brauchen eine bildungspolitische Trendwende und sie muss bei den Grundkompetenzen beginnen. Mit der Verständigung auf das Startchancen-Programm werden Bund und Länder den großen Hebel ansetzen.“ 

Von einem „Paradigmenwechsel“ und einer „enormen Schubkraft“ schwärmte auch das baden-württembergische Kultusministerium. Hausherrin Theresa Schopper (Grüne) sprach von einem „Meilenstein“: „Wir unterstützen ganz gezielt dort, wo die Unterstützung am meisten gebraucht wird: Bei den Kindern und Jugendlichen, die es aufgrund ihrer Herkunft oder ihres familiären Hintergrunds nicht aus eigener Kraft schaffen können.“

Tatsächlich stellte sich bei aller demonstrativen Hochstimmung schnell die Frage, ob diese Form der Hochglanz-Kommunikation der Struktur und dem Potenzial des ausgehandelten Startchancen-Programms gerecht wurde.

Als messbares Ziel gaben Bund und Länder nicht weniger vollmundig aus, die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen, bis zum Ende der Programmlaufzeit an den Startchancen-Schulen zu halbieren. 

Einige einflussreiche Landesministerinnen schien allerdings von Anfang an ein mulmiges Gefühl zu beschleichen. Karin Prien (CDU) aus Schleswig-Holstein etwa, die in derselben Pressemitteilung wie Stark-Watzinger deutlich vorsichtiger formulierte: Das Programm, das auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und guten Erfahrungen in einigen Ländern aufbaue, könne „als ein Element dafür sorgen, mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland umzusetzen“. 

Und tatsächlich stellte sich bei aller demonstrativen Hochstimmung schnell die Frage, ob diese Form der Hochglanz-Kommunikation der Struktur und dem Potenzial des ausgehandelten Startchancen-Programms gerecht wurde. Oder ob ein Hochtreiben der Erwartungen in den Schulen sich nicht am Ende als Hypothek für den Erfolg des Vorhabens herausstellen könnte.

Bedarfsgerechte Verteilung oder doch nur Königsteiner Schlüssel plus Kosmetik?

Stichwort Paradigmenwechsel: Vor dem Startchancen-Programm war es üblich, das Geld aus Bund-Länder-Programmen über den sogenannten Königsteiner Schlüssel gleichmäßig über die Länder zu verteilen – ohne dabei auf die regionalspezifischen Unterschiede in der Schulausstattung oder der sozialen Zusammensetzung der Schüler Rücksicht zu nehmen. 

So geschehen beim Digitalpakt. Mithilfe eines Endgeräte-Sonderprogramms des Bundes, so die ursprüngliche Idee, sollten Schulen in der Coronakrise Laptops und Tablets für den Unterricht anschaffen, um sie an Schüler verleihen zu können, deren Eltern das Geld für einen Kauf fehlt. Von den 500 Millionen Euro gingen zum Beispiel rund fünf Millionen nach Bremen und 78 Millionen nach Bayern.

Allerdings hatte Bayern zu dem Zeitpunkt nicht 16-mal so viele arme Kinder und Jugendliche, die Sozialleistungen bezogen, wie Bremen, sondern nur dreieinhalbmal so viele. Das aber spielte bei der Verteilung des Geldes keine Rolle, sodass Bayern pro Leistungsempfänger rechnerisch mehr als viermal so viel in Laptops investieren konnte als Bremen.

Beim Startchancen-Programm werde das anders werden, versprachen SPD, Grüne und FDP bei ihrem Regierungsantritt Ende 2021. Kernsatz aus dem Ampel-Koalitionsvertrag: Mit Startchancen „wollen wir Kindern und Jugendlichen bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern ermöglichen“. Was angesichts der ungleichen Verteilung von Armut über die Bundesländer bedeuten musste: auch unabhängig von der geografischen Lage der betroffenen Familien.

Für die meisten Kultusminister maß sich ihr Verhandlungserfolg nicht am Erreichen bundesweit gleicher Bildungschancen, sondern daran, möglichst viel Startchancen-Geld zu sich ins Land zu holen.

Doch brach zwischen den Ländern rasch Gerangel und Gerechne aus. Jeder diskutierte soziale Indikator führte aus Sicht der besser situierten Länder zu inakzeptablen Verlusten, was „ihren“ Anteil an den Bundesmilliarden anging. Es zeigte sich: Für die meisten Kultusminister maß sich ihr Verhandlungserfolg nicht am Erreichen bundesweit gleicher Bildungschancen, sondern daran, möglichst viel Startchancen-Geld zu sich ins Land zu holen. Was man ihnen auch kaum übelnehmen konnte: Denn wer wählt die Partei eines Bildungsministers, der stolz darauf ist, zugunsten der Kinder in einem anderen Bundesland auf Geld für die eigenen Schüler verzichtet zu haben?

Am Ende einigten sich die Länder auf einen Minimalkonsens, der in seiner Grundlogik auf die Einigung mit dem Bund übertragen wurde. Hinter vorgehaltener Hand sprachen manche auch von Königsteiner Schlüssel plus Kosmetik: 600 Bundesmillionen, so besagt es das finale Startchancen-Vereinbarungspaket, werden pro Jahr über die übliche Gießkanne (in diesem Fall die Einwohnerzahl) verteilt und sind vor allem für den Schulen frei zur Verfügung stehende „Chancenbudgets“ und die Unterstützung multiprofessioneller Teams bestimmt. 

Und nur 400 Millionen pro Jahr, gedacht für lernförderliche Baumaßnahmen, fließen im Sinne des Ampel-Koalitionsvertrags abhängig von „sozialer Lage“, definiert über drei Indikatoren: dem Anteil der unter 18- Jährigen mit Migrationshintergrund, der Armutsgefährdungsquote der unter 18-Jährigen, und der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung des Landes (je schwächer, desto mehr finanzielle Unterstützung). Die Sache mit der Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung erschließt sich nicht auf Anhieb? Kein Wunder. Denn auch an diesen drei Indikatoren wurde so lange gedreht, bis die Unterschiede zwischen den Ländern nicht mehr zu heftig waren.

Über den Autor

Jan-Martin Wiarda ist Journalist, Politikwissenschaftler und Volkswirt mit Fokus auf die Themen Bildung, Forschung und Entwicklung. Nach dem Studium machte er eine Redakteursausbildung an der Deutschen Journalistenschule. Danach war er als Autor u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Brand Eins und Financial Times Deutschland aktiv. Acht Jahre arbeitete er als Redakteur im Bildungsressort der ZEIT, drei Jahre als Kommunikationschef der Helmholtz Gemeinschaft. Seit 2015 ist er freier Journalist, Autor und Moderator. 2016 folgte eine Dissertation an der HU Berlin.

Jan-Martin Wiarda

Die Wübben-Stiftung gibt auf ihrer Website an, was das bedeutet. Bremen erhält 9,6 Millionen Euro pro Jahr, Bayern 143,6 Millionen. Würde man den reinen Königsteiner Schlüssel anwenden, wären es 8,4 Millionen für Bremen und 154,2 Millionen für Bayern. Der Paradigmenwechsel beläuft sich also auf ein paar Millionen pro Jahr bzw. ein paar Prozentpunkte mehr oder weniger pro Schüler. Und weil der Wirtschaftsleistungsindikator querschlägt, kommt es, wie zuerst Table Media berechnete, zu der kuriosen Situation, dass der länderübergreifend betrachtet überdurchschnittlich stark von Kinderarmut betroffene Stadtstaat Berlin wegen seiner vergleichsweise hohen Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung schlechter wegkommt als mit dem Königsteiner Schlüssel.

Auf der anderen Seite bekommt das nicht gerade für seine hohe Armutsquote bekannte Rheinland-Pfalz über den Startchancen-Schlüssel 1,5 Millionen mehr pro Jahr, als das mit Königstein in Reinkultur der Fall gewesen wäre. Ob sich diese 1,5 Millionen Euro mehr pro Jahr für die Schüler zwischen Mainz und Kaiserslautern wie der große bildungspolitische Paradigmenwechsel anfühlen werden, ist zumindest einmal zu bezweifeln.

Große Versprechungen und Aha-Effekte in den Medien

Apropos Millionen und Milliarden: Schon das rheinland-pfälzische Beispiel zeigt, dass die 20 Milliarden Euro, kleingerechnet auf die einzelnen Jahre und Bundesländer, schon deutlich weniger beeindruckend klingen. Wenn man sie noch kleiner machen will, muss man nur den Betrag pro Startchancen-Schüler und Jahr angeben: rund 1.800 Euro. 

Und selbst das trifft es nicht genau, denn gesichert „frisch“ ist von dem Startchancen-Geld nur die Hälfte, also 900 Euro pro Schüler. Das ist das Bundesgeld. Die Länder können sich laut Vereinbarung auf unterschiedlichste Weise auch Bildungsausgaben anrechnen lassen, die sie längst tätigen. Was hier gar nicht skandalisiert werden soll, denn dafür gibt es durchaus gute Gründe. Zum Beispiel, dass etliche Bundesländer schon eigene Startchancen-Vorläuferprogramme am Start hatten. Und auch wenn womöglich je nach Bundesland wenig bis gar kein frisches Geld ausgegeben wird, soll es vielfach doch in Richtung der Startchancen-Schulen umgesteuert werden.

Trotzdem: Wenn Stark-Watzinger und ihre Länderkollegen beharrlich von „20 Milliarden“ für das Startchancen-Programm redeten, hätten sie jedes Mal eine dicke Fußnote hinzufügen müssen: „von denen nur zehn Milliarden auf jeden Fall neues Geld sind“.

Obwohl der journalistische Reflex stark ist, das Startchancen-Programm umso kleiner zu schreiben, je gewaltiger Politiker es aufzublasen versuchen, würde man dem Programm am Ende Unrecht damit tun.

Wäre also statt Superlativen und Versprechungen – etwa die Zahl der Schüler mit Mathe- und Deutschschwäche zu halbieren – nicht eher Erwartungsmanagement angesagt? Doch obwohl der journalistische Reflex stark ist, das Startchancen-Programm umso kleiner zu schreiben, je gewaltiger Politiker es aufzublasen versuchen, würde man dem Programm am Ende Unrecht damit tun.

Ja, die Kulissenschieberei ist groß, aber auch nicht größer als in anderen Politikbereichen. Und hier diente sie einem guten Zweck: das Augenmerk der Öffentlichkeit auf das drängendste Problem unseres Bildungssystems zu lenken: Die enorme und nicht geringer werdende Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft, die daraus resultierende Schieflage bei den erworbenen Kompetenzen, und – wenn die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu Erwachsenen herangewachsen sind – der gesellschaftliche Sprengstoff, der daraus entsteht. 

Das Startchancen-Programm-Narrativ, verbunden mit dem Milliarden-Preisschild, führte zu Aha-Effekten in den Medien, zu Nachfragen, zu Berichterstattung und vielleicht, so die Hoffnung, zu mehr gesellschaftlicher Bereitschaft, langfristig mehr Geld einseitig – einseitiger als es tatsächlich im Startchancen-Programm der Fall ist – in eine faire Verteilung von Bildungschancen zu investieren. Im besten Fall wäre dann nicht das Programm selbst der Paradigmenwechsel, es würde aber den Weg dahin ebnen. 

Warum das Startchancen-Programm doch einen Paradigmenwechsel enthält

Von entscheidender Bedeutung dafür ist ein anderer Aspekt des Startchancen-Programms: Auch wenn die Bundesmilliarden wie dargestellt überwiegend per Gießkanne auf die Bundesländer verteilt werden, innerhalb der Bundesländer dürfen sie das nicht. Hier müssen die Startchancen-Schulen anhand sozialer Indizes ermittelt werden, die – noch so ein Nebeneffekt, der in Wirklichkeit ein Haupteffekt ist – viele Bundesländer vor dem Programm noch gar nicht entwickelt hatten.

Gut für sozial benachteiligte Schüler und Schulen in Bayern, von denen es, siehe oben, viel weniger gibt als in Bremen – weshalb sie mit höherer Wahrscheinlichkeit an einer Startchancen-Schule lernen werden als ihre Altersgenossen in Bremen oder Berlin.

Die Qualität der Evaluation wird sich daran entscheiden, ob alle Länder wirklich bereit sind, transparent alle dafür nötigen Schul- und Schülerdaten zur Verfügung zu stellen.

Aber wir wollten ja beim Positiven bleiben. Und so soll am Ende dieses Beitrags mindestens ein Paradigmenwechsel stehen, den das Startchancen-Programm wirklich enthält. Er bezieht sich auf die Einbindung der Bildungsforschung. Nicht nur soll das Programm, Stichwort „Evaluation“, gründlich auf seinen Erfolg durchleuchtet werden, gänzlich neu ist zudem die Größenordnung, mit der zusätzlich die wissenschaftliche Begleitung gefördert wird: 100 Millionen Euro über zehn Jahre. Zwischen Schulpraxis, Wissenschaft und Bildungsverwaltung sollen ganz neue Brückenformate entstehen, „Kompetenzzentren“ sollen Schulen und Lehrkräfte unterstützen.

Die Qualität der Evaluation wird sich indes daran entscheiden, ob alle Länder wirklich bereit sind, transparent alle dafür nötigen Schul- und Schülerdaten zur Verfügung zu stellen. Für die beteiligten Forscher ist es eine Wette auf Erfolg, denn weil so viel Geld fließt, ist auf die eine oder andere Weise ein beträchtlicher Teil der wissenschaftlichen Community entweder in die Evaluation oder die Begleitforschung eingebunden, darunter auch Wissenschaftler, deren kritische Stimmen das Programm vorher von außen begleitet hatten.

Aber auf jeden Fall ist es ein Paradigmenwechsel für die Schulentwicklung. Wohin, das ist noch offen.

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