Wie können die drei Säulen im Startchancen-Programm wirkungsvoll in ein aufeinander abgestimmtes Gesamtkonzept gebracht werden, damit dessen übergreifende Ziele möglichst nachhaltig erreicht werden? Aus den Erfahrungen der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft im Projekt „Ganztag und Raum“ lassen sich konkrete Handlungsempfehlungen für ein erfolgreiches Zusammendenken von Pädagogik und Architektur ableiten. Ein Beispiel dafür ist die Umgestaltung der Grundschule am Dichterviertel in Mülheim an der Ruhr.
Das Startchancen-Programm ist auf zehn Jahre angelegt und unterstützt Schulen in sozial benachteiligter Lage in drei Bereichen – in der Verbesserung der Lernumgebung, in Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie mit zusätzlichem Personal zur Stärkung von multiprofessionellen Teams. Das Ziel ist der Abbau sozialer Disparitäten und somit die Schaffung von Chancengerechtigkeit. Damit die jeweiligen Investitionen nachhaltig wirksam werden, müssen die Bereiche zusammengedacht werden. Das Programm beinhaltet das Potenzial, Schulentwicklung im multiprofessionellen Team mit der Architektur im Zusammenklang zu betrachten.
In diesem Zusammenhang stehen wir jedoch vor einer großen Herausforderung: Wie werden die drei Programmsäulen – Raum, Pädagogik und Personal –, die von ihrer Zuständigkeit auf unterschiedlichen Ebenen verortet sind, vor Ort in den Kommunen bzw. an den Schulen im Zusammenspiel mit dem Land zusammengebracht?
Die zentrale Erkenntnis: Nur gemeinsam geht es!
Die Erfahrung aus vielen Pilotprojekten zeigt deutlich: Man kann die drei Programmsäulen nicht voneinander getrennt denken. Ein Schulumbau ist kein lineares Bauvorhaben, sondern ein pädagogisch-räumlich-organisatorischer Gesamtprozess, der alle Perspektiven vereint und dessen Grundlage ein pädagogisches Konzept bildet. Wer heute für die Schule von morgen plant, muss sich zuerst fragen:
- Welche Art des Lernens, Begegnens und Zusammenarbeitens brauchen wir heute und in Zukunft?
- Wie müssen Pädagogik und Raum gestaltet sein, damit Kinder, Jugendliche und Erwachsene über den ganzen Tag lernen, arbeiten und sich zurückziehen können?
- Was passiert in diesen Räumen und Flächen und wie können diese effektiv über den ganzen Tag von allen genutzt werden?
(Ganztags-)schule ist eben mehr als Unterricht – daraus ergeben sich neue Anforderungen für Pädagogik und Raum. Wenn wir über Schule sprechen, meinen wir nicht nur Vormittagsunterricht. Wir sprechen über Lern- und Lebensorte für den ganzen Tag – und für alle Menschen, die daran beteiligt sind:
- Kinder und Jugendliche
- Lehrer:innen
- Erzieher:innen
- Sozialpädagog:innen
- Sonderpädagog:innen
- und viele mehr…
Alle müssen Teil des Entwicklungsprozesses sein. Nur dann kann ein Konzept entstehen, das trägt – pädagogisch, räumlich und organisatorisch. Wenn alle Perspektiven einbezogen werden, entsteht ein guter Lern- und Arbeitsraum mit Wohlfühlcharakter für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, der den Anforderungen der Zukunft flexibel standhält. Denn eins ist klar: Gebaut wird für mindestens 50 Jahre. Was heute entsteht, prägt Generationen und muss dem Wandel standhalten bzw. wandlungsfähig sein.
Über die Autorinnen
Dr. Annalena Danner (r.) ist Erziehungswissenschaftlerin, Sozialpädagogin, Sozialarbeiterin und Projektleiterin im Themenfeld „Inklusive ganztägige Bildung“ der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft.
Dr. Meike Kricke (l.) ist Erziehungswissenschaftlerin, Pädagogin und seit 2019 Vorständin der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft.
Dipl.- Ing. M.Eng. Barbara Pampe (m.) ist Architektin und seit 2019 Vorständin der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft.

Fotos: Magdalena Jooss
Der Prozess: Alle Säulen wirken zusammen
Deshalb ist es so wertvoll, dass das Startchancen-Programm einen Zehn-Jahres-Zeitraum eröffnet. Nicht, um zu warten – sondern um genügend Zeit für die Planung zu haben und nachhaltig zu wirken. Denn Schule muss sich an eine Gesellschaft anpassen, die sich ständig verändert. Die Fragen, die wir heute stellen, sind Zukunftsfragen:
- Wie funktioniert Lernen in einer digitalen, vernetzten Welt?
- Wie setzen wir inklusive ganztägige Bildung sinnvoll um?
- Wie stärken wir die Teamarbeit im Ganztag trotz unterschiedlicher Qualifikationen, Anstellungsverhältnisse und Gehälterstrukturen?
- Brauchen wir noch „Klassenräume mit Tisch und Stuhl“ – oder eher Orte des Austauschs, des Gestaltens, des Wohlbefindens und der Beteiligung?
Im Zentrum steht ein gemeinsamer Prozess. Hierbei entstehen die Konzepte, die Raum, Organisation und Pädagogik zusammendenken. Umbaumaßnahmen und Möblierung leiten sich daraus ab und werden nicht losgelöst von pädagogischen Konzepten erarbeitet. Es braucht:
- Schulentwicklungsprozesse mit allen (!) Beteiligten
- Eine starke Zusammenarbeit mit dem multiprofessionellen Team
- Gute externe Prozessbegleitung (Pädagogik + Architektur), die alle an einen Tisch bringt
Bevor eine Maßnahme für eine förderliche Lernumgebung (Säule I) geplant werden kann, muss zunächst gemeinsam mit dem gesamten multiprofessionellen Team (Säule III) ein Schulentwicklungsprozess durchlaufen werden (Säule II), aus dem die Maßnahmen für Säule I heraus geplant werden. Der Raum im Zusammenspiel mit der Einrichtung folgt damit dem pädagogischen Konzept – die Säulen werden von hinten bespielt: 3 – 2 – 1!

Daraus ergibt sich auch eine qualitätsvolle „Sparmaßnahme“ für den Schulträger: Wenn der Schulträger übergreifend Verantwortung übernimmt und auch innere Schulangelegenheiten mitdenkt, Gelder aus Säule I und II auch für Prozessbegleitung einsetzt, ergibt sich Folgendes: Neu- oder Anbauten können umgangen werden und sinnvolle, qualitativ hochwertige minimalinvasive Umbaumaßnahmen für mehr Qualität des gesamten Schultages sorgen. Innere und äußere Schulangelegenheiten werden in einer Verantwortungsgemeinschaft zusammengedacht. Das zeigt sich auch in unseren Pilotprojekten, zum Beispiel in Mülheim an der Ruhr.
Grundschule am Dichterviertel: Zusammenarbeit macht Ganztagsschule
Die Grundschule am Dichterviertel war eine von fünf bundesweiten Schulen im Pilotprojekt „Ganztag und Raum“. Vor dem Hintergrund des Ganztagsförderungsgesetzes wurden Erkenntnisse aus den Stiftungshandlungsfeldern Pädagogische Architektur und Inklusive ganztägige Bildung verbunden, um an fünf Pilotstandorten integrierte Nutzungskonzepte zu entwickeln, die die additiven Strukturen von „Schule (formale Bildung, Unterricht)“ und „Jugendhilfeangeboten (non-formale Bildung, Betreuung)“ sowohl pädagogisch-didaktisch als auch organisatorisch und räumlich auflösen.
Dazu arbeiteten Stadt/Schulträger, Schulaufsicht, Bildungsbüro, Ganztagsträger, Akteur:innen der Ganztagsschule und Prozessbegleitungen aus den Feldern Pädagogik und Architektur gemeinsam an einem integrierten Nutzungskonzept. Das Ergebnis?
- Eine kindgerechte Rhythmisierung des Tages
- Ein gemeinsames Bildungsverständnis des gesamten Kollegiums
- Ein abgestimmtes pädagogisches Konzept im gesamten multiprofessionellen Team
- Räume und Flächen, die eine zukunftsweisende Pädagogik unterstützen und das Wohlbefinden fördern
- Minimale bauliche Eingriffe, die maximale Wirkung zeigen
- Brandschutzlösungen, die Flure zu pädagogisch nutzbarer Fläche machen und Kosten sparen
- Sichtverbindungen und Transparenz zwischen den Räumen statt hermetisch abgeschlossener Klassenräume
- Ein Wechsel aus flexiblen und festeingebauten Möbeln, die unterschiedliche Lehr- und Lernsituationen ermöglichen
So wurde aus einer Schule mit zu wenig Fläche ein innovatives Lernhaus – nicht trotz, sondern gerade wegen der Herausforderungen. Durch einen gemeinsamen Prozess konnten aufwendige Neu- und Anbauten vermieden werden. Nicht pädagogisch nutzbare Flächen werden durch ein verändertes Brandschutzkonzept aktiviert, Sichtverbindungen ermöglichen gleichzeitige Nutzungen von Flächen, eine andere Nutzungszuweisung von Räumen fern von Fächern und Personen führt zu einer besseren Auslastung und eine veränderte Möblierung schafft vielfältige Lern-, Rückzugs- und Begegnungsorte.
Die Idee hinter dem Programm „Ganztag und Raum“ und auch hinter dem Startchancen-Programm lässt sich so zusammenfassen: Wenn alle Flächen ganztägig und gemeinsam – auf Basis eines abgestimmten pädagogischen Konzepts – genutzt werden, entsteht eine Schule mit echtem Mehrwert. Dann braucht es bei einem ausreichenden Flächenkontingent auch kein Mehr an Fläche.

Handlungsempfehlung: 3, 2, 1 – Die Architektur folgt der Pädagogik, nicht umgekehrt
Wer Schule entwickeln will, muss vom Kind aus denken – den ganzen Tag ausgehend vom Lernen und Leben planen – und gemeinsam handeln. Dann kann aus einem traditionellen Schulbau eine förderliche Lernumgebung werden.
Daher lautet unsere Handlungsempfehlung: zunächst im multiprofessionellen Team (Säule III) Schulentwicklung gemeinsam gestalten (Säule II) als Grundlage für bauliche darauf abgestimmte Maßnahmen (Säule I). Die Architektur folgt dem pädagogischen Konzept – nicht umgekehrt. Nur durch eine enge Verzahnung von Raumgestaltung und pädagogischen Zielen kann eine zukunftsfähige Bildung gewährleistet werden.
Somit sehen wir auch in dem Sondervermögen für Investitionen in Bildungsinfrastruktur eine wichtige Schnittstelle, sowohl in zukunftsgerichtete Schulgebäude und gleichzeitig in eine zukunftsgerichtete Pädagogik zu investieren… durch aufeinander abgestimmte gemeinsame Prozesse!
Text: Annalena Danner, Meike Kricke, Barbara Pampe
Titelfoto: Simon Veith
Über die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft
Die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft ist eine unabhängige gemeinnützige Stiftung und gehört zur Gruppe der Montag Stiftungen in Bonn. In ihren Handlungsfeldern Pädagogische Architektur, Bildung im digitalen Wandel und Inklusive ganztägige Bildung engagiert sie sich für eine chancengerechte Alltagswelt, an der alle Menschen gleichberechtigt teilhaben können und die Kindern und Jugendlichen bestmögliche Entwicklungs- und Bildungschancen eröffnet. In ihrem Handlungsfeld Pädagogische Architektur macht sich die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft für einen zukunftsfähigen, nachhaltigen und inklusiven Schulbau stark. Dabei verbindet sie die zwei Disziplinen, die im Schulbau eng zusammengehören: Denn gute Schulen brauchen sowohl pädagogische Konzepte, die Kinder und Jugendliche optimal begleiten, als auch Räume, die diese Konzepte ermöglichen und unterstützen.
Weiterführende Informationen
– Online-Veranstaltungsreihe „Startchancen Säule I im Gespräch“
– Pilotprojekte „Ganztag und Raum„
– Blog: Schulen planen und bauen
– Online-Plattform „Schulbau Open Source“
– Das Playbook zur „Phase Zehn“